Drei Fragen an... Micaela Casalboni
1) Von Jean Monnet, einem der Gründerväter der Europäischen Union, ist der Ausspruch bekannt „Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird einst die Summe der Lösungen sein, die man für diese Krisen ersonnen hat." Anfang 2020 durchrüttelt eine Pandemie ungeahnten Ausmaßes die Welt, jetzt, im Mai 2020, werden noch im europäischen Lockdown wieder erste Schritte Richtung „Normalität“ unternommen. Norditalien, wo sich auch Ihr Teatro dell'Argine befindet, zählt zu den besonders von COVID-19 betroffenen Regionen. Ist Jean Monets Ausspruch auch in der aktuellen Krise gültig und wie erleben Sie, die sich für die gesellschaftliche Relevanz von Kultur, Vielfalt und Solidarität einsetzen, diese Zeit?
Europa war nicht nur der Traum von Jean Monnet. Wir alle, Jungen und Mädchen, die in den 1970er Jahren geboren wurden, sind mit diesem Traum von Europa aufgewachsen – symbolisiert und konkret erfahrbar durch Interrail-Reisen, Erasmus-Aufenthalte und das Ende der Grenzkontrollen. Der Traum von Europa, oder besser gesagt, der Traum von einer gemeinsamen transnationalen und transkulturellen Perspektive, leitete von Anfang an auch das künstlerische Konzept unserer Compagnia Teatro dell’Argine: Projekte zu realisieren, die uns außerhalb der Mauern unseres ITC Teatro Comunale di San Lazzaro in andere europäische und nicht europäische Länder führen, um Neues zu lernen, Erfahrungen zu sammeln und sich über Projekte und Theaterstücke auszutauschen; um sich also Aktionen auszudenken, die die große Welt da draußen ins Innere unserer heimischen Theatermauern bringen (die symbolisch betrachtet durchsichtig und durchlässig geworden waren); um eine Idee von Theater zu entwickeln, die eher etwas mit der Beziehung zwischen den Menschen zu tun hat als mit der elitären Kultur der Samtvorhänge und Marmorböden; und schließlich, um diese Idee mit einer Praxis zu verbinden, die nicht nur die Theaterprofis einbezieht, sondern auch die Nicht-Profis; nicht nur die Fachleute anderer Künste und Disziplinen, sondern auch diejenigen anderer Bereiche (Kultur, Bildung, Sozialwesen); nicht nur den Nabel unserer Welt, sondern auch die Peripherie; nicht nur ein Niederreißen der physischen Grenzen, sondern auch der kulturellen und spirituellen. Im Moment scheint es mir – ich spreche nicht als Europa-Expertin, sondern als Bürgerin –, dass Europa zwei Gesichter hat: Es gibt den lebendigen und starken Beitrag einer reichen, vielfältigen, bewussten, offenen und zum Austausch bereiten Zivilgesellschaft auf der einen Seite, und es gibt auf der anderen Seite ein Europa aus Mitgliedstaaten, die nicht immer bereit zu sein scheinen, miteinander zu reden, gemeinsam zu handeln, solidarisch zu sein (nicht einmal im Angesicht einer Pandemie) und aus Institutionen, die nicht stark genug sind, um wirklich etwas zu bewirken. Wir haben das schon während der sogenannten Flüchtlingskrise festgestellt, und wir sehen es jetzt bei den Folgen der COVID-19-Pandemie. Im ersten Fall hatten und haben wir (wobei man zumindest in Italien schon fast nicht mehr darüber spricht) eine Unzahl von Toten und Menschenrechtsverletzungen; im zweiten Fall haben wir ebenfalls eine Unzahl von Toten, und wir haben Staaten, in denen Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern sowie ganze Bereiche (einschließlich des Kulturbereichs) die Krise wegen fehlender oder unzureichender sozialer Auffangnetze vielleicht nicht überleben werden. Wenn diese neue Krise zu einer Transformation führt, dann kann sich Monnets Voraussage endlich erfüllen. Wenn aber die getroffenen Maßnahmen nur kurzfristige und zaghafte Lösungsansätze bleiben, dann wird der Weg noch lang und steinig sein.
2) Welche Rolle sehen Sie für die Kultur im Paradigma von Social Dinstancing? Die Stärke von Theater ist gerade das Zusammenbringen von Menschen, das Schaffen einer Gemeinschaft, aber auch die Möglichkeit, Fragen zu stellen und uns eine andere Sicht auf die Dinge zu ermöglichen.
Kultur, Theater und die Künste allgemein könnten tatsächlich der Schlüssel für einen Neuanfang sein, vor allem für eine Art von Kunst und Kultur, die in der Lage ist, unsere Welt und unsere Zeit zu betrachten, ohne Angst, sich auf die Menschen einzulassen und jenen eine Stimme zu geben, die keine haben. Die Wiederherstellung des Selbstwertgefühls und der Lust, die Welt außerhalb der eigenen vier Wände zu erkunden, die Wiedererlangung des Vertrauens in das Gegenüber und in einen jetzt wieder gemeinsamen Raum, die kreative Möglichkeit, neue Räume zu erfinden, dritte Räume, wie Homi K. Bhabha gesagt hätte, in denen unter Wahrung der physischen Distanz zusammengelebt wird: All dies liegt in den Möglichkeiten des Theaters und der Künste. Wenn einige dieser künstlerischen Praktiken und Übungen (bereits existierende oder noch zu erfindende) in den Schulen mit Kindern, Jugendlichen und Lehrern, in den Seniorenresidenzen, an Orten mit Menschen, die kein Zuhause haben und nicht ausreichend sozial vernetzt sind, sowie in Familien mit häuslicher Gewalt umgesetzt würden, kurz, wenn die ersehnte Allianz zwischen Kultur, Sozialem und Bildung geschaffen würde, könnte der Aufschwung nicht nur schneller vorangehen, sondern uns auch in eine neue, menschlichere und gerechtere, und vielleicht sogar schönere Normalität führen.
3) Das Teatro dell'Argine bei Bologna, dessen künstlerische Leiterin Sie sind, und die Stiftung Genshagen verbindet eine inzwischen mehrjährige Zusammenarbeit. Noch im Herbst 2019 haben wir mit jungen Erwachsenen aus fünf europäischen Ländern in zwei künstlerischen Workshops „Nomadische Labore UTOPIAS“ in Italien und Deutschland zum Thema „Zusammenleben in Europa“ gearbeitet. Was schätzen Sie an dieser Art von Veranstaltungen und welches Potenzial sehen Sie darin, wenn Sie an die Zukunft Europas denken?
Stellen wir uns einmal vor, dass es die COVID-19-Pandemie gar nicht gibt. Transdisziplinäre, transsektorale, transkulturelle, transgenerationale und transnationale kreative Austauschprojekte wie das der Stiftung Genshagen bilden genau diese Allianz zwischen Kultur, Bildung und Sozialem, von der ich zuvor gesprochen habe. Wie ich bereits an anderer Stelle gesagt habe, war das der Aspekt, der mich am Projekt „An den Grenzen der Zukunft“ und an der Arbeit der Stiftung im Allgemeinen gefesselt hat. Wenn zwei Menschen, so verschieden sie auch sein mögen, sich treffen, um gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten, und dabei plaudern, schwitzen, spielen, zusammen essen, verschwindet die abgrundtiefe Distanz zwischen ihnen, und es entsteht bei beiden eine neue, vielschichtige und wechselseitige Identität: ein dritter Raum, (fast) mühelos. Natürlich braucht es die richtigen Kompetenzen und viel Energie, um diese Art von Arbeit zu realisieren und zu leiten, aber es funktioniert, fast magisch. Menschen, die sich im Bus begegnen, würden einander instinktiv misstrauen, im Probesaal erschaffen sie hingegen bereits in kürzester Zeit etwas gemeinsam. Stellen wir uns nun vor, dass es die Pandemie gibt und dass sie viele sehr verschiedenartige Nachwirkungen haben wird. In diesem Fall wird es noch wichtiger, auf miteinander verflochtene und innovative Praktiken und Prozesse zu setzen, denn unsere Schulen werden nicht mehr dieselben sein, unsere Busse werden nicht mehr dieselben sein, unsere Kunstwerke werden nicht mehr dieselben sein, unsere menschlichen Beziehungen werden nicht mehr dieselben sein. Das Gesicht unserer Polis wird sich verändern. Es ist unsere Aufgabe, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln und unabhängig von unserem Background dafür zu sorgen, dass dieses neue Gesicht den Menschen anlächelt, ihn nicht ausgrenzt, ihn nicht unter Druck setzt, ihn nicht der Grundrechte beraubt, sondern ihm ein nachhaltigeres, menschlicheres und offeneres Bild seiner selbst zurückgibt.